Denn Liebe ist stark wie der Tod. Lianes Geschichte von Andersdenkende
Teil
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Ich beruhigte sie, so gut ich konnte, und redete ihr – nicht zum ersten Mal
– ins Gewissen, sich professionelle Hilfe zu suchen. „Ruf noch einmal diese
Therapeutin an, bei der du damals warst,“ riet ich, „Du kommst da alleine
nicht mehr raus, du brauchst Hilfe von Leuten, die was davon verstehen. Es
ist keine Schande, sich Hilfe zu suchen, wenn man selbst nicht mehr weiter
weiß. Schau, deine Freunde, deine Eltern, deine Familie, wir alle werden
dich unterstützen und für dich da sein, du wirst das bestimmt irgendwie
schaffen. Nur den ersten Schritt, den musst du selbst tun, den kann dir
keiner abnehmen.“
Liane gab mir in allen Punkten recht und versprach mir, die Therapeutin
anzurufen.
Als ich am nächsten Tag anrief, um zu hören, wie es ihr ging, war sie
gewollt fröhlich am Telefon. Nein, die Therapeutin habe sie nicht angerufen,
es ginge ihr schließlich gut und sie sei glücklich in ihrer Beziehung,
Außerdem sei sie nicht verrückt oder irre und bräuchte deshalb auch keinen
Irrenarzt. Das gestern, ja klar, das habe sie wohl etwas übertrieben
ausgedrückt, es sei ihr halt gerade aus beruflichen Gründen nicht so gut
gegangen und deshalb habe sie auch manches andere überbewertet. Ich solle
das alles nicht so ernst nehmen.
Ich hätte sie durchprügeln können, aber mir war klar, dass das keinen Zweck
hatte. Solange Liane sich selbst belügen wollte, blieb mir und auch allen
anderen, die sich Sorgen um sie machten, nur übrig, abzuwarten und auf
bessere Zeiten zu hoffen.
Dann auf einmal die Nachricht, Lianes Geiger würde seine Zelte hierzulande
abbrechen und zurück ins Ausland gehen. War das die Wende? Würde er nun von
sich aus die Beziehung zu Liane beenden und ihr damit die Chance geben,
wieder ein selbst bestimmtes Leben zu führen?
Es kam ganz anders.
Liane rief mich an und fragte mich, was ich davon halten würde, wenn sie
hier alles hinter sich lassen und mit ihm gehen würde. Ich fiel aus allen
Wolken.
„Er sagt, er liebt mich,“ plapperte meine Freundin am Telefon, „Er meint, er
will nicht ohne mich sein. Natürlich ist dort seine Familie, aber er sagt,
er wird mich schon irgendwie unterbringen. Er hat gesagt, es sei nur die
Frage, ob meine Liebe zu ihm groß genug ist, seine sei es!“
Er sagt – er meint – er sagt... meine Freundin hörte sich an wie eine hängen
gebliebene Schallplatte.
Klar, dass er kein Problem darin sah, dass seine „Liebe“ groß genug war – er
würde ja auch nicht das geringste aufgeben für Liane, im Gegenteil, er bekam
durch sie ja ständig noch etwas zu seinem sonstigen Leben dazu.
Es war der pure Egoismus von ihm, dass er Liane mitnehmen wollte. Er war
derjenige, der auf sein gewohntes Leben, auf seine kleinen Annehmlichkeiten,
auf die netten „Extras“, die ihm seine Geliebte bot, nicht verzichten
wollte.
Welch eine Zumutung von ihm, von einer jungen Frau, die hier Familie,
Arbeit, Umfeld und Freunde hatte, zu verlangen, all das für ihn aufzugeben,
wo er ihr noch nicht einmal eine feste Zweierbeziehung bieten konnte!
„Liane,“ sagte ich vorsichtig, „Du solltest dir das gut überlegen. Hier hast
du alles, du hast deine Arbeit, deine Familie, dein soziales Netz. Dort bist
du in einem fremden Land, du kennst niemanden, du wirst niemand haben, der
dich stützt, wenn es dir einmal schlecht geht. Du wirst dort voll und ganz
von ihm und seinem Goodwill abhängig sein. Willst du das denn?“
„Und wenn schon?“ reagierte Liane beleidigt, „Ich liebe ihn nun mal, und ist
es da so schwer, alles hinter sich zu lassen? Das ist doch auch eine
wundervolle Chance! Wenn er sieht, dass ich auch dort gut zurechtkomme,
trennt er sich vielleicht doch noch von seiner Frau! Außerdem ist es das
natürlichste von der Welt, dass man bei demjenigen sein will, den man liebt,
oder nicht?“
- Ist es, aber er sah das offenbar nicht so. Wenn er Liane liebte, warum
brach er dann hier seine Zelte ab, obwohl er auch länger hätte bleiben
können? Ihm kam es offenbar nicht so sehr darauf an, bei derjenigen zu sein,
die er angeblich „liebte“; er ging ja ohne weiteres das Risiko ein, dass sie
nein sagte zu der Aufforderung, mit ihm zu kommen. -
„Ich verstehe dich nicht,“ schimpfte Liane, „Wenn dein Mann ins Ausland
müsste, würdest du doch auch mitgehen!“
„Liane,“ sagte ich sanft, „Er ist mein Mann. Und selbst in diesem Fall,
obwohl er mein Ehemann ist, würde ich mir gut überlegen, ob ich das einfach
so mache, ob ich meine eigene berufliche Karriere, meine Ziele, meine
Freunde und meine Familie so über den Haufen werfe. Er würde das allerdings
auch nie alleine entscheiden, eine solche Frage würden wir immer gemeinsam
durchsprechen und gemeinsam einen Kompromiss suchen, der für beide lebbar
ist. Grundlage dafür ist jedoch, dass du eine gleichberechtigte
Zweierbeziehung führst, keine Beziehung, in der der eine immer zurücksteckt,
nur reagiert und sich komplett nach dem anderen richtet.“
Liane war verschnupft. Offenbar verstand ich sie nicht richtig, warf sie mir
vor, und gerade von mir hätte sie sich etwas mehr Verständnis erhofft.
„Ich habe dir nur geraten, dass du es dir gut überlegen sollst,“ sagte ich
so zurückhaltend wie möglich, obwohl ich sie am liebsten angebrüllt hätte,
„Mehr nicht. Es ist eine wichtige Entscheidung, brich sie nicht übers Knie.“
Liane suchte noch bei einigen anderen Leuten Rat, bekam aber nicht das zu
hören, was sie hören wollte. Deshalb machte sie nun den radikalen Schnitt:
Sie suchte sich kurzerhand neue Freunde.
Diese rieten ihr, ruhig alles hinzuwerfen und hinter sich zu lassen, es sei
eine tolle Gelegenheit, mit ihm zu gehen, und sie solle es doch einfach
„ausprobieren“ und „versuchen“.
Ich hätte jeden einzelnen von Lianes neuen Freunden erwürgen können.
Wie ich diese Leute verabscheute, die immer so tun, als könne man alles
„ausprobieren“ und „versuchen“, ohne jegliche ernsthafte Gefahr, ohne
jeglichen Schaden. So, als sei das Leben ein simples
Mensch-ärgere-dich-Spiel, in dem man einfach von vorne anfangen kann, wenn
man rausgeworfen wird, so, als sei es ein nettes Tänzchen auf einem Seil mit
mindestens zwei Sicherheitsnetzen und einer Masse Daunenkissen darunter, die
einen weich auffangen würden, wenn man fiel. So, als könne man bei diesen
„Versuchen“ und all dem „Ausprobieren“ keine bleibenden Schäden an Leib und
Seele davontragen, als könne man sich keine Verletzungen zuziehen, die unter
Umständen nie wieder abheilen.
Ich für mein Teil sage immer, ich muss nicht jede Erfahrung selbst gemacht
haben, um ungefähr zu wissen, was dahinter steht. Ich muss mir keinen
Wackerstein auf den Fuß fallen lassen, um zu wissen, dass das weh tut. Ich
muss mir keine Nadel mit Stoff in den Arm geschossen haben, um zu wissen,
dass man davon süchtig werden und dass dies grauenhafte Folgen haben kann.
Ich muss nicht Geliebte gewesen sein, um zu wissen, dass es unter Umständen
mit mehr Schmerz verbunden sein kann, als ein Mensch zu ertragen in der Lage
ist.
Anstatt Liane vorsichtig darauf hinzuweisen, dass sie auf sich aufpassen
musste, drängten ihre neuen „Freunde“ sie, es einfach auszuprobieren, mit
ihrem Freund ins Ausland zu gehen.
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Foto: Stefan Zimmer
aboutpixel.de
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