In aller Stille. Abschied von einer Freundin

von Andersdenkende
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Mir sind Dinge eingefallen, an die du dich gar nicht mehr erinnern konntest, bis ich sie dir erzählt habe.
Weißt du noch, zehn Jahre früher, anderer Ort, andere Situation: Die Abschlussklausur zur deutschen Außenpolitik. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt gerade mit meinem damaligen Freund Schluss gemacht und vor lauter Liebeskummer nicht richtig lernen können – in meinem Kopf war so ziemlich alles, nur keine deutsche Außenpolitik. Ich saß vor meinem leeren Klausurblatt und wusste: Heute fall ich durch. Das war’s dann wohl, das Semester kann ich gleich noch einmal machen. Du bist einen Tisch weiter neben mir gesessen, und obwohl du fleißig geschrieben hattest, ist dir meine Verzweiflung doch aufgefallen.
Du hast fragend herübergeschaut, ich habe auf mein leeres Blatt gedeutet und hilflos die Schultern gezuckt. Und dann ging alles ganz schnell. Mit einem kurzen Blick hast du dich davon überzeugt, dass der Professor gerade die hintere Reihe kontrollierte, und dann hast du mir blitzschnell und waghalsig deine Klausur herüber geschoben.
Ich war perplex gewesen, habe dann aber schleunigst mit dem Schreiben angefangen, denn kurz vor Ende der Prüfung musste der Austausch ja noch einmal umgekehrt vonstatten gehen...
Wir haben es geschafft, und wir haben beide die Klausur bestanden – ich aber eindeutig mit deiner Hilfe.
Ich habe es nie vergessen.
Dir ist es im Nachhinein popelig erschienen, mir nicht.

An so vieles habe ich mich erinnert, so vieles ist mir wieder eingefallen. Kleinigkeiten, Alltagsszenen, nicht Großes.
Arm in Arm beim Sommerschlussverkauf.
Kichernd und tuschelnd in der Vorlesung „Guck dir mal die Krawatte vom Prof heute an!“
Kaffeetrinken in der Mensa.
Jammernd beim Bücherschleppen in der UB „Halt doch mal an, da muss noch ein Stapel obendrauf!“.
Diskussionen über das gerade gelesene Buch, Überlegungen über einen Kommilitonen, der für dich schwärmte und mit dir ins Kino wollte, Verabredungen zum Schwimmen.
Und der Abend, an dem wir uns, neunzehnjährig damals, gegenseitig erzählt haben, was wir in unserem Leben alles erreichen wollen.
Wie wenig davon ist für dich in Erfüllung gegangen. Und wie fern das alles liegt.

Du wirst uns so sehr fehlen. Nicht nur mir, auch Kalle, Sophia, Martin, Philipp, Sybille. Am meisten natürlich deinen Eltern und deiner Schwester. Was für ein Weihnachten wird das werden für deine Familie, ohne dich. In dem Wissen, nie, wirklich nie wieder mit dir.
Nur von IHM, von ihm haben wir natürlich nichts mehr gehört. Du hast auch lange nicht mehr nach ihm gefragt, nur ganz am Schluss noch einmal. Aber ich glaube, du hast ihn immer noch geliebt. Man muss nicht immer alles verstehen.

Ich bin dankbar für die Zeit, die uns zum Abschiednehmen blieb. Dankbar dafür, dass uns das Leben eine Frist gönnte, Dinge, die nicht in Ordnung waren, in Ordnung zu bringen.

Man weiß nie, wie viel Zeit man noch hat dafür. Weswegen ich die letzten Tage auch damit verbracht habe, Dinge in Ordnung zu bringen.
Da war eine Entschuldigung, die noch ausstand. Blöder, falscher Stolz, dass ich es aufgeschoben habe. Ein Anruf nur, und jetzt bin ich so froh.
Da waren zwei Menschen, mit denen ich lange nicht mehr gesprochen hatte. Immer hat man etwas zu tun, nie hat man Zeit. Vorgeschobene Gründe, man ist bequem, ist faul, interessiert sich nicht so richtig für den anderen, lebt lieber für sich. Dabei ist es so einfach...
Dann noch ein Missverständnis vor einiger Zeit, natürlich hatte ich recht und er war schuld, aber ist es wirklich so wichtig, dass ich darauf beharre, mich nun NICHT als erstes wieder zu melden?
Wie gut, dass ich es getan habe, er hat mir gestanden, dass er sich nicht mehr getraut hat, sich bei mir zu melden. Wie idiotisch, alles nur wegen eines dummen kleinen Missverständnisses. Es war so schnell aus der Welt geräumt, und er hat sich so sehr darüber gefreut, dass ich den ersten Schritt gemacht habe.

Wie froh bin ich, dass ich diese Dinge nun alle noch in Ordnung bringen konnte in diesem alten Jahr. Wie gut, dass da nichts mehr ist, was offen ist, nichts mehr, was aufgeschoben ist, nichts mehr, was einem schwer werden würde, wenn das Schicksal unwiderruflich eine Tür zuschlägt.
Dass wir noch alles klären konnten, war ein Geschenk. Manchmal kriegt man halt doch was geschenkt im Leben.

Wenn man die Wahl hat, sich zu entscheiden... entscheidet man sich dann für die Trauer oder für die Freude? Entscheidet man sich für das Leid oder für die Erfüllung?
Vielleicht ist es falsch, traurig zu sein, dass du gegangen bist. Vielleicht ist es schöner, sich zu freuen, dass du da warst. Dass wir Zeit miteinander verbringen durften, dass wir ein Stück unseres Lebens miteinander teilen konnten. Vielleicht ist es richtig, dankbar zu sein, dass wir einander hatten.
Und vielleicht sollten wir den Reichtum erkennen, der in diesem Schicksal liegt, denn eigentlich hatten wir etwas, das sich die meisten Menschen sehnlichst wünschen: Eine Freundschaft, eine zwischenmenschliche Bindung, die Bestand hatte bis zum Tod.

So bist du schließlich gegangen als Geliebte, was in diesem Fall nicht nur hohler Euphemismus ist; du wurdest geliebt von deiner Familie und deinen Freunden.
Hinterlassen hast du uns: Den Blick für das Wesentliche, Besinnung auf die wirklich wichtigen Dinge im Leben. Gelassenheit. Bewunderung für deine innere Größe, mit der du letztlich dein Schicksal getragen hast.

Ich habe dich gehalten, so lange es irgendwie möglich war. Und am liebsten noch länger. „Grauenhaft konservativ“ hast du mich immer lachend genannt. Ja, so bin ich nun mal, und grauenhaft konservative Menschen wie ich, die lassen nicht gerne los. Die wollen immer bewahren, behalten, beschützen. Und wer mir nahe am Herzen steht, den halte ich fest...

Du selbst bist nicht mehr hier, aber ich halte das Bild fest, die Erinnerung, das Lachen und das Leuchten. Wo auch immer du bist, wo auch immer ihr seid, die ihr schon vorher gegangen seid... es gibt ein Band, das nie zerreißt. Und das eine Ende davon halte ich auch dann noch fest in der Hand, wenn ihr schon unendlich fern von mir seid. Zumindest das weiß ich ganz, ganz sicher.

Liebe Freundin,
ich wünsche dir, dass du ohne Schmerzen gehen konntest, dass der Abschied leicht war und der Schritt durch die Pforte mit einem Lächeln geschehen konnte. Ich wünsche dir, dass du im Ursprung der Schöpfung, zu dem du nun zurückgekehrt bist, jene Liebe findest, nach der du hier so vergeblich gesucht hast. Ich wünsche deinem Sehnen ein Ende und deiner Seele Erfüllung. Ich wünsche deinem Herzen Frieden.
In Freundschaft und Liebe, die Andersdenkende
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