Denn Liebe ist stark wie der Tod. Lianes Geschichte

von Andersdenkende
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Er sprach sie darauf an, rügte sie, motzte sie an, sie würde sich wohl keine Mühe mehr um ihn geben. Sie versuchte, die letzten Kräfte für ihn zu mobilisieren, für ihn hübsch und fröhlich zu sein, doch sie war körperlich und seelisch schon zu sehr gebrochen, als dass es noch Erfolg gehabt hätte.

Sie erzählte ihm von dem Knoten in der Brust, er schwieg dazu.

Irgendwann sagte er ihr, es sei aus.
Sie hätten eine schöne Zeit miteinander gehabt, er hätte sie recht gerne gehabt, aber nun sei die Luft raus, sie habe sich gehen lassen, sie gefalle ihm nicht mehr, es sei besser, wenn sie in ihr Heimatland zurückkehren würde.

Er kaufte ihr ein Flugticket und schickte sie zurück, wie ein Muster ohne Wert, eine ausprobierte Ware, die nicht für gut genug befunden wurde.

Vom Flughafen aus hatte sie ihre Eltern angerufen; diese waren geeilt, um sie abzuholen.

Lianes Eltern waren entsetzt von dem Zustand, in dem sich Liane befand, psychisch wie physisch. Sie brachten sie zum Arzt, und diesem blieb auch der Knoten, der inzwischen eine beachtliche Größe erreicht hatte, nicht lange verborgen.
Er überwies sie sofort in die Klinik.

Liane hatte Brustkrebs. In einem sehr weit fortgeschrittenen Stadium.

Brusterhaltend zu operieren, machte keinen Sinn mehr. Sie nahmen ihr die Brüste ab, erst die linke, dann die rechte. Die erste Chemotherapie wurde begonnen, und die Ärzte versuchten, mit Skalpell und Medikamenten zu retten, wo nichts mehr zu retten war. Der Krebs hatte sich bereits ausgebreitet, im ganzen Körper fanden sich Metastasen, die Lymphknoten waren befallen.

Und so sah ich meine Freundin schließlich wieder, die ich fast ein Jahrzehnt zuvor als blühende, strahlende junge Frau kennen gelernt hatte: In einem tristen Krankenhauszimmer, psychisch und physisch am Ende. Sie hatte keine Haare mehr, keine Augenbrauen und keine Wimpern. Ein weites T-Shirt verbarg gnädig die beiden frisch vernarbten Löcher, die mal ihre Brüste gewesen waren.

Wir haben nicht viel gesprochen bei diesem ersten Besuch, Belanglosigkeiten, paradox ist das, als ob es nicht viel Wichtigeres gäbe. Wir haben uns an Floskeln festgehalten, übers Wetter geredet. Beim Verabschieden hat Liane gesagt, sie würde sich freuen, wenn ich wiederkäme. Also bin ich wiedergekommen.

Die Stadt, in der Lianes Klinik ist, ist nicht so sehr weit von der meinigen entfernt, ich schaffe es, sie einmal die Woche zu besuchen. Manchmal geht es ihr gut, da kann sie dann sogar ein bisschen lachen, wenn ich ihr etwas Lustiges erzähle. Manchmal geht es ihr schlecht, da ist sie dann kaum ansprechbar. Wir haben in den letzten Monaten Phasen erlebt, in denen sie sogar zwischendurch nach Hause durfte, dann wieder Phasen, in denen Reden Linderung brachte, dann Phasen, in denen nichts mehr half. Wenn sie nur noch apathisch dalag, auf nichts reagierte, wenn man sie noch nicht einmal in den Arm nehmen konnte, weil es ihr wehtat, wenn nur das bloße Da-Sein blieb, und das über Wochen. Wenn man selbst anfängt, zu zweifeln, ob es überhaupt noch etwas bringt, oder ob es nicht eher eine Belastung für sie ist, einen schweigenden Menschen am Bett sitzen zu haben. Dann jedoch kommt wieder ein Tag, an dem sie auf einmal meine Hand nimmt und mir sagt, dass es ihr gut tut, dass ich da bin. Das gibt dann mir die Kraft, weiterzumachen.

Sterbebegleitungen sind schwer, und sie sind um ein Vielfaches schwerer, wenn man dem Menschen, dem man nicht mehr helfen kann, auch noch emotional verbunden ist.

Sie haben Liane im Krankenhaus eine Therapeutin gegeben, mit der sie viel spricht in den Phasen, in denen es möglich ist. Liane hat sie nach dem Warum gefragt, da es in ihrer Familie keine Veranlagung zu Brustkrebs gab, und die Therapeutin hat gemeint, dass gerade Brustkrebs wie auch Gebärmutterkrebs bei Frauen auch psychische Ursachen haben können. Wenn eine Frau Probleme mit sich selbst oder ihrem Frau-Sein hat, wenn sie unter dauerndem seelischen Stress oder Kummer steht, dann kann es sein, dass sich die große innere Belastung ein körperliches Ventil sucht, dass das, was die Psyche zerfrisst, dann auch den Körper angreift.

Manche werden sagen, dass Liane „selbst schuld“ ist. Das ist richtig und falsch zugleich.
Natürlich ist Liane schuld in dem Sinne, dass sie sich selbst zuwenig Wertschätzung entgegengebracht hat, psychisch nie so richtig stabil war, dass sie Probleme mit ihrem Selbstwertgefühl hatte – aber ob es so weit hätte kommen müssen? Sie ist schuld, weil sie sich auf den falschen Mann eingelassen und auf die falschen Freunde gehört hat, weil sie „gespielt“ und die Gefahr nicht erkannt hat, sie hat es „mit sich machen lassen“, schuld ist sie auch, weil sie nicht sofort nach der Entdeckung des Knotens zum Arzt gegangen ist, vielleicht hätte man sie da noch retten können.
Aber auch die Umstände sind schuld, die sie im falschen Augenblick den falschen Mann treffen ließen, ebenso wie die Umstände, die dazu geführt haben, dass alle Systeme, die einen Menschen normalerweise schützen und ihm Halt geben – Arbeit, Familie, Freunde – zu einem gewissen Zeitpunkt versagt haben. Schuld ist auch das Umfeld, das in der falschen Situation falsch reagiert hat, auch ich habe bestimmt einige Male im falschen Moment Druck gemacht, war ein anderes Mal zu nachsichtig, habe an Stellen geschwiegen, an denen ich besser geredet hätte, und umgekehrt. Und dennoch, wenn ich heute darüber nachdenke, dann fällt mir nichts ein, was ich anders machen würde – ich denke, ich würde wieder genauso handeln.
Schuld ist schließlich, und das beileibe nicht in letzter Konsequenz, Lianes Geiger, jener Mann, von dem sie so abhängig war, dem sie alles gegeben hat, und der sie schließlich aus ihrem sozialem Umfeld herausgerissen hat. Ich weiß, dass ich mich hier etwas zurückhalten muss, weiß, dass ich dazu neige, IHM die alleinige Schuld zuzuweisen, was ich nicht tun sollte; es ist nicht meine Aufgabe, zu richten.
Aber dennoch, wenn ich an IHN denke, dann steigt die eiskalte Wut in mir hoch, dann kommt es mir vor, als sei Liane einfach eine reife Frucht gewesen, die er nachlässig vom Baum gepflückt und abgenagt hat, und die Überreste, die er nicht mehr wollte, die hat er in den Straßengraben geworfen.

Wäre, hätte, könnte, wollte – man kann viel darüber spekulieren, was hätte sein können, wenn manches anders gelaufen wäre. Wenn Liane zum Zeitpunkt der Entdeckung des Knotens in Deutschland gewesen wäre, hätte sie vielleicht doch ihrer Schwester oder den Eltern davon erzählt, wäre vielleicht doch rechtzeitig zum Arzt gegangen. Wenn sie ihrem Geiger früher davon erzählt hätte, hätte der vielleicht doch dafür gesorgt, dass sie medizinische Hilfe bekommt. Oder doch nicht?

Liane hat sich, als sie ins Krankenhaus kam, einen großen Stapel Postkarten gewünscht. Sie hat alle ihre Freunde angeschrieben, sie gebeten, sich bei ihr zu melden.
All ihre alten Freunde haben sich gemeldet. Von ihren neuen „Freunden“, jenen, die ihr geraten haben, hier alles im Stich zu lassen, kein einziger.

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Foto: SiHe  pixelio.de